20150727CEST211157+0100 Finanzamt: Vernichtung von Akten ist keine Entschuldigung
Werden bestandskräftige Steuerbescheide wegen (angeblich) neuer Tatsachen vom Finanzamt geändert, ist häufig streitig, ob das Finanzamt dazu verfahrensrechtlich überhaupt befugt ist. Das Finanzgericht (FG) Rheinland-Pfalz hat jetzt in einem Fall entschieden, dass sich ein Finanzamt nicht auf Unkenntnis berufen kann, weil archivierte Unterlagen bereits vernichtet worden seien.
Die Klägerin ist Rentnerin. Das Finanzamt hatte eine ihrer Renten (90.000 Euro pro Jahr) nach Prüfung der dazu vorgelegten Unterlagen alljährlich mit dem Ertragsanteil (17 Prozent) der Besteuerung unterworfen. Nach einem Umzug der Klägerin übernahm das zuständig gewordene Finanzamt ungeprüft diese Besteuerung der Klägerin und berücksichtigte die Rente ebenfalls nur mit dem Ertragsanteil von 17 Prozent.
Ein paar Jahre später erfuhr das Finanzamt (im Wege einer sog. Kontrollmitteilung), dass die Rentenzahlungen vom Sohn der Klägerin stammten, dem die Klägerin dafür im Jahr 1993 ihr Vermögen übertragen hatte. Daraufhin änderte das Finanzamt nachträglich die bereits bestandskräftigen Steuerbescheide für vier Jahre, weil es der Auffassung war, dass diese Art von Rente in voller Höhe hätte besteuert werden müssen. Die geforderte Steuernachzahlung betrug insgesamt rund 140.000 Euro.
Finanzamt hätte Sachverhalt prüfen und Unterlagen erneut anfordern müssen
Die dagegen erhobene Klage der Klägerin hatte Erfolg (Urteil vom 16. Juni 2015, Az. 5 K 1154/13, noch nicht rechtskräftig). Das FG Rheinland-Pfalz ließ offen, ob die Rente tatsächlich in voller Höhe zu besteuern sei, weil es darauf nicht ankomme. Das beklagte Finanzamt sei nämlich schon nicht befugt gewesen, die bereits bestandskräftigen Steuerbescheide zu ändern. Bereits vor Erlass dieser Bescheide hätte das Finanzamt die Rechtslage prüfen und z.B. beim früher zuständigen Finanzamt die seinerzeit dazu vorgelegten Unterlagen – vor allem den Übertragungsvertrag – anfordern müssen. Selbst wenn dieser Vertrag dort inzwischen archiviert oder mit Altakten vernichtet worden sei, könne sich das beklagte Finanzamt nicht auf Unkenntnis berufen. Denn in diesem Fall hätte der Vertrag erneut von der Klägerin angefordert werden müssen. Die Klägerin hingegen treffe kein Versäumnis, weil sie die erhaltenen Zahlungen in gleicher Weise wie in den Vorjahren in ihren Einkommensteuererklärungen angegeben habe. Die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) hat das FG nicht zugelassen.
Entscheidung relevant für alle „Dauersachverhalte“
Bei dem Bezug von Rente handelt es sich um ein sog. „Dauersachverhalt“, d.h. um einen Sachverhalt, der nicht nur in einem einzigen Jahr steuerlich relevant ist. Dennoch ist das Finanzamt berechtigt bzw. verpflichtet, in jedem neuen Veranlagungszeitraum den Sachverhalt erneut rechtlich zu prüfen. Stellt sich dabei heraus, dass das Finanzamt bisher eine unzutreffende Rechtsauffassung vertreten hat, darf bzw. muss das Finanzamt die neue Rechtsauffassung umsetzen und die Besteuerung für die Zukunft entsprechend ändern. Das Finanzamt Bad Neuenahr-Ahrweiler hätte daher nicht einfach die Rechtsauffassung des zuvor zuständigen Finanzamtes übernehmen dürfen, sondern hätte selbst unter Beiziehung der dafür erforderlichen Unterlagen eine rechtliche Würdigung vornehmen müssen.
Die Entscheidung des FG hat über den entschiedenen Einzelfall hinaus für alle „Dauersachverhalte“ Bedeutung, d.h. auch für andere Einkunftsarten (Arbeitslohn, Vermietungseinkünfte, Kapitaleinkünfte usw.) oder andere Steuerarten (z.B. Gewerbe- oder Umsatzsteuer).
(FG Rheinland-Pfalz / STB Web)
Artikel vom: 27.07.2015
Quelle: STB Web.